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Ein Blick über den Tellerrand: Wie Kanada versucht Wohnungslosigkeit von Jungen Erwachsenen zu verhindern

ein Beitrag von Tom Adrian und Florian Baumgarten, Gründungs- und Vorstandsmitglieder der [um]bruch:stelle


 

Auch Mitglieder der [um]bruch:stelle haben die Hauptferienzeit für einen Urlaub genutzt. Tom Adrian, Vorstandsmitglied der [um]bruch:stelle, zog es nach Kanada. Einem Land sowohl bekannt für dessen Freundlichkeit als auch für Verbrechen an dessen indigener Bevölkerung. In Kanada hat Tom für uns die Augen für die Situation junger Wohnungsloser offen-, und die Ambivalenzen des Landes festgehalten.


Kanada: Großes Land, unrühmliche Geschichte


Auch wir starten wie Tom seinen Urlaub begann: mit einem Blick in Wikipedia. Gemessen an der Fläche ist Kanada nach Russland, China und der USA das viertgrößte Land der Welt. Mit einer Einwohnerzahl von rund 40 Millionen Menschen ist Kanada jedoch recht dünn besiedelt. Die kanadische Bevölkerungsdichte von 4,2 Einwohner pro km² ist im Vergleich zu Österreich (109 Einwohner pro km²) verschwindend gering.


Die Besiedelung des Landes durch First Nations – so nennt sich der Zusammenschluss von Menschen indigener Herkunft Kanadas, begann vor ca. 12.000 Jahren. Im 16.Jahrhundert begann die blutige Kolonialgeschichte des heutigen Kanadas durch Großbritannien und Frankreich. Bis heute gibt es einen französischsprachigen Teil rund um Montréal und Quèbec, bis heute ist Kanada Teil des Commonwealth[i].


Gegenwärtige Armutsbetroffenheit und ihre Wurzel in der kolonialen Unterdrückung


Soviel zur grundsätzlichen Orientierung. Warum aber ist das wichtig? Weil die Kolonialgeschichte bis heute für Konfliktlinien im Lande sorgt, weil sie bis heute zu Armut und Ausgrenzung führt.


An der indigenen Bevölkerung wurden zu viele Gräueltaten veranlasst. Über Auslöschungsversuche bis hin zu Assimilationsstrategien fehlt es nicht an belegter Geschichte. Eine der wohl grausamsten Versuche „das Problem mit der indigenen Bevölkerung endgültig zu lösen“, waren Residential Schools, zu Deutsch Wohnschulen. Hier wurden bis in die 1990er Jahre indigene Kinder ihren Eltern entrissen und in kirchliche Internate gesteckt, wo sie häufig Gewalt, sexuellem Missbrauch, Hunger und Krankheiten ausgesetzt waren.


Papst Franciscus hat sich erstmals 2022 dafür entschuldigt[ii]. Premierminister Trudeau hat dies vor einem Monat getan[iii]. „Besser spät als nie“, hört man dazu in Kanada. Bis heute, wirkt die Geschichte dieser rassistischen Unterdrückung in Form von Diskriminierung und Armutsbetroffenheit nach. Obwohl nur knapp 4% der Bevölkerung als indigene Bevölkerung gelten, werden ein ganzes Drittel der Notquartiersnächtiger*innen der indigenen Bevölkerung zugerechnet [iv].


Kanada als Vorbild für Forschung zur Prävention von „youth homelessness“?


Gerade im Kontext armutsbetroffener Junger Erwachsener zeigt sich Kanada zunehmend progressiv – zumindest was die Wissenschaft betrifft. Das „Canadian Observatory on Homelessness“ rund um Stephan Gaetz, auch Gastvortragender am Care Day 2024 in Wien, beschäftigt sich seit fast einem Jahrzehnt in einer Vielzahl an Publikationen mit der Wohnungslosigkeit von Jugendlichen und Jungen Erwachsenen[v]. Besonderer Aufmerksamkeit gilt dabei der praktischen Verhinderung und Beendigung von Wohnungslosigkeit[vi],[vii],[viii]. Aus österreichischer Perspektive ist dabei insbesondere der Fokus auf „Upstream Prävention“, also eine Prävention die möglichst früh, meist schon im Bildungssystem ansetzt, interessant.


Zumindest 35.000 Jugendliche und Junge Erwachsene, sind in Kanada von Wohnungslosigkeit betroffen. So wie Erwachsene auch, versuchen sie häufig aus Angst vor Ausgrenzung und Stigma persönliche Krisen zu verdecken oder nicht nach außen zu tragen. Anstatt erst zu handeln, wenn (Wohn-)Probleme offensichtlich, also von außen erkennbar, und schwerer bewältigbar werden, versucht die „Upstream Canada[ix] Initiative Jugendliche in einem sequenziellen Verfahren mittels Fragenbögen (Assessment) und persönlichen Gesprächen  zu identifizieren, die Gefahr laufen wohnungslos zu werden. Jenen, bei denen tatsächlich dieses Risiko besteht, wird rasch adäquate Unterstützung angeboten[x],[xi]. Die jüngsten Daten zeigen: 603 Schüler*innen aus zwei Mittelschulen (81%) in Kelowna, Kanada nahmen am Upstream Assessment teil. Aufgrund der engen Verbindung von Schulabbrüchen und Wohnungslosigkeit in Kanada, hatte das Assessment zum Ziel Schüler*innen zu identifizieren, die aufgrund unentdeckter schwerer Lebensumstände Gefahr laufen die Schule abzubrechen. Bei 266 Schüler*innen wurde ein derartiges erhöhtes Risiko festgestellt. Bei 60% von ihnen, konnte das Schulumfeld ohne „Upstream Assessment“ die „verdeckten“ Krisen nicht erkennen[xii].


Eine weitere Studie sticht im kanadischen Kontext ins Auge. In einem Experiment erhielten 50 obdachlose Menschen (Notquartiersnutzer*innen) 7500 kanadische Dollar (damals wie heute rund 5000€). Die Studie widerlegte nicht nur jegliche Vorurteile („Die versaufen das ja sowieso“), die Ausgaben für Alkohol oder Tabak erhöhten sich nicht. Die Direktzahlung erhöhte die Lebensmittelsicherheit und zeigte sogar einen gesamtgesellschaftlichen, ökonomischen Nutzen auf: Da die Teilnehmer*innen zumindest temporär ihre Obdachlosigkeit überwinden konnten und innerhalb des Jahres seltener Notquartiere nutzen musste, standen den 7500 kanadischen Dollar Ausgaben pro Person durchschnittliche Einsparungen in der Höhe von 8277 Dollar gegenüber – ein Nettogewinn von 777 Dollar[xiii]!


Politischer Wille für Prävention von (junger) Wohnungslosigkeit


Es ist hier sicher nicht alles Gold, was glänzt. Immerhin spricht Stephen Gaetz von einem Anstieg an Wohnungslosigkeit von 20% in Kanada[xiv], während in Österreich zumindest einige Kennzahlen darauf hindeuten[xv], dass das Ausmaß der Betroffenheit wohnungsloser Menschen zumindest quantitativ (noch) stabil ist. Steigende Kennzahlen in der Delogierungsstatistik lassen allerdings, trotz massiver Investitionen des Sozialministerium (Stichwort Wohnschirm und Housing First Österreich), eine Zunahme in den kommenden Jahren befürchten[xvi].


Ungeachtet des negativen Trends in Kanada hat die enge Verwobenheit von Wissenschaft und Praxis Leuchtturmprojekte und Ideen präventiver Natur hervorgebracht, an denen auch Österreich sich viel abschauen kann. Der Mut den Weg der Upstream Prävention zu gehen ist ansteckend. Wir erinnern hier gerne an das 2021 unterzeichnete Lissabon-Abkommen, Obdachlosigkeit bis 2030 in Europa zu beenden, auch verlinkt auf der Homepage des Bundeskanzleramtes[xvii]. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es sowohl Maßnahmen für leistbaren Wohnraum als auch Bekenntnisse wie jene Kanadas neue Wege zu gehen und in frühzeitige, präventive Maßnahmen zu investieren.


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Bibliographie

[i] Wikipedia (o.J.): Kanada. https://de.wikipedia.org/wiki/Kanada [eingesehen am 20.8.24]

[ii] CBC News (2024): Pope Francis apologizes for forced assimilation of Indigenous children at residential schools. https://www.cbc.ca/news/canada/edmonton/edmonton-pope-alberta-apology-1.6530947

[iii] CBC News (2024): PM says he will apologize for First Nations child welfare discrimination. https://www.cbc.ca/news/politics/prime-minister-plans-first-nations-child-welfare-apology-1.7240520

[iv] Gaetz, S., Dej, E., Richter, T., Redman, M. (2016): The State of Homelessness in Canada 2016. Toronto: Canadian Observatory on Homelessness Press.

[v] Gaetz, S., O’Grady, B., Kidd, S., Schwan, K. (2016). Without a Home: The National Youth Homelessness Survey. Toronto: Canadian Observatory on Homelessness Press

[vi] Gaetz, S. (2023). Youth Homelessness Prevention Initiative Needs Assessment. Toronto, ON: Canadian Observatory on Homelessness Press.

[vii] Gaetz, S., Schwan, K., Redman, M., French, D., Dej, E. (2018). The Roadmap for the Prevention of Youth Homelessness. A. Buchnea (Ed.). Toronto, ON: Canadian Observatory on Homelessness Press.

[viii] Story, C., Walter, H. Borato, M., Gaetz, S. (2021): THIS is Housing First for Youth. Toronto, ON: Canadian Observatory on Homelessness Press.

[ix] Das Modell wurde von Initiativen aus Australien übernommen und angepasst.

[x] Sohn, J., Gaetz, S. (2020). The Upstream Project Canada: An Early Intervention Strategy to Prevent Youth Homelessness & School Disengagement. Toronto: Canadian Observatory on Homelessness Press.

[xi] Canadian Observatory on Homelessness (o.J.): Upstream Canada. Online verfügbar unter https://homelesshub.ca/collection/programs-that-work/upstream/

[xii] Canadian Observatory on Homelessness (2024): Upstream Canada: Preventing Youth Homelessness through School Engagement. Kelowna: Canadian Observatory on Homelessness Press.

[xiii] Dwyer, R., Palepu, A., Williams, C., Daly-Grafstein, D., Zhao, J. (2023): Unconditional cash transfers reduce homelessness. Proceedings of the National Academy of Sciences 120(36), 1-9.

[xiv] York University (2024): Breaking the cycle: A researcher’s mission to prevent homelessness in Canada. Interview mit S. Gaetz, online verfügbar unter https://www.yorku.ca/edu/2024/03/20/breaking-the-cycle-a-researchers-mission-to-prevent-homelessness-in-canada/

[xv] Statistik Austria (2024): Wohnen 2023. Zahlen, Daten und Indikatoren der Wohnstatistik. Wien: Verlag Österreich.

[xvi] Moussa-Lipp, S., Baumgarten, F. (2024): Wohnungsnot und Delogierungswahnsinn. In: A&W Blog, online verfügbar unter https://www.awblog.at/Soziales/Wohnungsnot-und-Delogierungswahnsinn

[xvii] Bundeskanzleramt (2021): Start der "Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit". Online verfügbar unter https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/europa-aktuell/start-der-europaeischen-plattform-zur-bekaempfung-der-obdachlosigkeit.html [22.8.24]

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