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Das Winterpaket – und die vergessenen Jungen Erwachsenen

Doris Moravec, Elisabeth Mitterfellner, Maresi Kienzer, Bernhard Eder, Florian Baumgarten, Tom Adrian


Wie jeden November ist es nun wieder gestartet: Das Winterpaket der Stadt Wien. Entstanden im Zuge von Studierendenprotesten und Audimaxbesetzung, ist es eine feste Größe in der Wiener Wohnungslosenhilfe (WWH). Mittlerweile 1000 zusätzliche Notquartiersplätze werden jedes Jahr für Menschen jeden Alters geschaffen, damit niemand in der kalten Jahreszeit auf der Straße schlafen muss. Ein finanzieller Kraftakt für die Stadt sowie Höchstleistung für NGOs und ihre Mitarbeiter:innen. Wie das Europäische Parlament [6] festhält, dürfen Notquartiere immer nur temporäre Notlösungen zur Vermeidung akuter Obdachlosigkeit sein. Denn nur in den seltensten Fällen können Rechte, wie etwa jenes auf Privatsphäre, in Mehrbettzimmern gewahrt werden. Nach heutigem Forschungsstand stellt sich aber insbesondere die Frage, inwiefern Notquartiere auch für die besonders vulnerable Gruppe der Jugendlichen und Jungen Erwachsenen[i] eine der Erwachsenenwelt gleichwertige Notlösung bietet. Basierend auf Ergebnissen der empirischen Sozialforschung, Pädagogik und Entwicklungspsychologie setzt sich daher folgender Beitrag wertschätzend, aber kritisch, mit den Akutangeboten der WWH auseinander. Dafür wird zuerst auf die Zielgruppe Junge Erwachsene eingegangen, um anschließend eine Bestandsaufnahme niederschwelliger Akutunterbringung zu tätigen.


Junge Erwachsene


In Geistes- und Sozialwissenschaften [3, 14, 15, 17] aber auch der Neurobiologie [4] verdichten sich Argumente dafür, das Junge Erwachsenenalter als eigenständige Lebensphase zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter zu interpretieren. Die Metapher der Jojo-Übergänge versucht die Entstandardisierung von Lebensläufen im Übergang ins Erwachsenenalter zu erfassen. Sie beschreibt insbesondere Individualisierungstendenzen, die mit einer Auflösung von Normbiographien und kollektiver Orientierungsmuster einhergehen und zu einer Diversifizierung der Lebensentwürfe sowie allgemein hoher Risiken und Unsicherheiten führen. Typischerweise wird der Übergang ins Erwachsenenleben zunehmend fragmentierter und führt zu einer Gleichzeitigkeit vieler klassisch jugendlicher und klassisch erwachsener Anforderungen [17]. Auf Subjektebene kann dies im Gefühl des „Dazwischen-Stehens“ zusammengefasst werden [2].

Abbildung 1: Subjektive Antworten auf die Frage, ob sich Befragte:r als erwachsen wahrnimmt [2]


Junge Erwachsene als eigene Lebensphase zu begreifen hat sowohl allgemeine Auswirkungen darauf wie die Unterstützung dieser Altersgruppe zu strukturieren ist, wirft aber auch im Kontext sozialer Ungleichheit spezifische Fragen auf. So identifiziert beispielsweise J.J. Arnett [2, 3] neben Instabilität die Exploration als ein Merkmal dieser Lebensphase, welche mit einem erhöhtem Risikoverhalten (betrunkenes Autofahren, Drogenkonsum, ungeschützter Geschlechtsverkehr, etc.) einhergeht. Auch die noch nicht vollständig ausgebildeten Exekutivfunktionen, also jene Funktionen, die für längerfristiges Planungsverhalten verantwortlich sind, sollten von Fachkräften berücksichtigt werden. Ansätze dafür sehen wir in Diskussionen innerhalb der Sozialarbeitswissenschaft um die Begriffe „hard to reach“ [exemplarisch div. Beiträge in 10], Niederschwelligkeit [exemplarisch 11] oder Lebensweltorientierung [exemplarisch 9]. Nicht Menschen mit ihren diversen Anlagen, biographischen Gewachsenheiten und sozialen Einbettungen müssen sich an Unterstützungsstrukturen anpassen, sondern Strukturen oder Einrichtungskonzepte müssen sich an die Lebensrealitäten, altersspezifische Bedarfe und Bedürfnisse, Sprunghaftigkeiten und Diskontinuitäten der Jungen Erwachsenen anpassen. Nur wenn sozialarbeiterische Konzepte diese Spezifika akzeptieren und aushalten können, werden die jungen Menschen in oder präventiv vor Notlagen rasch und nachhaltig erreicht und gelingend begleitet. Es stellt sich also die Frage, wie das Junge Erwachsenenalter in Forschung, Einrichtungskonzepten oder auch Gesetzgebung berücksichtigt werden kann. Altersgrenzen sind immer umstritten, zur Konzeption aber häufig unerlässlich. Durch die Pluralisierung von Lebensverläufen zeigt sich allerdings eine besondere Komplexität, welche in eine große, willkürlich wirkende Spannweite bei Altersmarkern zwischen Jugend- und Jungerwachsenenalter mündet: Verlängerungen der Jugendphase werden in Forschung [18] und Praxis [1] wahrgenommen, und die Bandbreite wird heute u.a. sogar zwischen 14 und 30 Jahren definiert [5]. Während das österreichische Strafrecht junge Erwachsene zwischen dem vollendeten 18. und 21. Lebensjahr definiert, und auch die Hilfen für junge Erwachsene der Wiener Kinder- und Jugendhilfe nur bis zu diesem Alter beantragt werden können, richten sich Angebote wie das Haus JUCA der WWH an Junge Erwachsene bis zu deren 27. Geburtstag.


Schlussendlich stellt sich die Frage, wie das Junge Erwachsenenalter im Kontext sozialer Ungleichheit zu verstehen ist. Was bedeuten die Veränderung unter Betrachtung von arm und reich? Hierfür soll ein plakatives Beispiel zuhanden genommen werden: Während aufgrund der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ökonomisch besser gestellte Gleichaltrige in Praktika soziales Kapital sammeln können und ein potentielles individuelles Scheitern von einem Sicherheitsnetz aufgefangen wird, pendeln armutsbetroffene Junge Erwachsene häufig – ohne Chance auf Besserung, finanzieller oder sozialer Absicherung – zwischen Leiharbeit und Hilfsarbeit. Während (oft unbezahlte) Praktika in der einen Gruppe als Explorationsmöglichkeit positiv besetzt sind, werden andere von der vollen Wucht der ausbeuterischen Praxen getroffen. Individualisierungs- oder Singularisierungstendenzen [12, 13] lassen erstere zudem gesellschaftlich wie Gewinner- und letztere wie Verlierer:innen erscheinen. Tatsächlich sind es aber die Risiken der Gegenwartsgesellschaft, die bereits im Jungen Erwachsenenalter ungleich verteilt sind.


Die Bestandsaufnahme


Wie bereits dargestellt, gibt es gute fachliche Gründe, Junge Erwachsene als eigene Zielgruppe der Sozialen Arbeit zu verstehen. Im Kontext von Obdach- und Wohnungslosigkeit verschränken sich Bedarfs- und Bedürfnislagen (z.B. Risikoverhalten) mit Gründen für Wohnungslosigkeit (z.B. Rauswurf bei den Eltern, Leaving Care, …) und Themen (z.B. Ausbildung und Erwerbseinstieg), die insbesondere dieser Zielgruppe eigen sind. In Anbetracht des Winterpakets der Stadt Wien, welches Anlass für diesen Beitrag ist, sind vorab positive Impulse, wie etwa die Eröffnung eines Tageszentrums für junge Wohnungslose, hervorzuheben. Ebenso erachten wir den Umbau der WWH weg von einem Stufenmodell hin zum Housing First-Ansatz[ii] als sehr positiv hinsichtlich der Spezifika Junger Erwachsener [7]. Die praktische Umsetzung der Strategie ist aktuell jedoch von langen Wartezeiten und Zugangshürden [8] geprägt, welche dringende Fragen nach der Akutversorgung Junger Erwachsener aufwerfen.


Im Zuge des Umbaus der WWH 2022[iii] sollen sog. Chancenhäuser, die wohnähnlichere Rahmenbedingungen (primär Doppelzimmer, Hauptwohnsitzmeldung, etc.) sowie sozialarbeiterische Betreuung vor Ort bieten, Notquartiere und ihre Mehrbettzimmer nach und nach als niederschwelliges Akutangebot ablösen. Nur noch im Winterpaket, das zum Glück weiterhin fixer Bestandteil der sozialpolitischen Strategie zu bleiben scheint, seien Notquartiere auch in Zukunft vorgesehen. Dieses doppelte duale System, einerseits Umbauprozess der WWH mit Gleichzeitigkeit von Notquartiers- und Chancenhaussystem andererseits veränderte Angebote in Sommer- und Winterzeit, macht eine Bestandsaufnahme komplex. Um die Notwendigkeit einer Angebotsergänzung zu verdeutlichen, wird in den folgenden Abbildungen dennoch versucht, die Anteile Junger Erwachsener in der Wiener Bevölkerung und im Unterstützungssystem der WWH den vorhandenen spezialisierten Angeboten gegenüberzustellen.

Abbildung 2: Anteil Junger Erwachsener innerhalb der Bevölkerung Wiens bzw. hilfesuchend in der WWH, im Vergleich zu altersspezifischen Angeboten in der WWH. Quelle: eigene Berechnung basierend auf Angaben der Einrichtungen, dem Positionspapier 2021 [1] sowie der Statistik Austria [16]


Von 568 Ganzjahres-Plätzen in Wiener Chancenhäusern (eigene Berechnung, basierend auf öffentlichen Angaben der Einrichtungen) stehen aktuell 57, oder 10 %, spezifisch Jungen Erwachsenen zur Verfügung. Ferner sind, wie schon im vergangenen Winter, auch im Winterpaket 2023/24 nur die Plätze der dauerhaft geöffneten Jugendnotschlafstelle a_way mit insgesamt zehn Plätzen, davon vier für 18-21jährige, spezifisch für jüngere Altersgruppen vorgesehen. Angesichts der jährlich rund 1000 neueröffneten Plätze im Winterpaket, ein zu vernachlässigender Anteil. Inkludiert man zusätzlich die 380 Hilfesuchenden unter 21 Jahren 2021 im P7, der vom Beratungsaufkommen größten Beratungsstelle für Wohnungslose, wird der Bedarf eines spezifischen Angebots für Junge Erwachsene rein zahlmäßig deutlich.


Resümee


Insgesamt ist die Bereitstellung des Winterpakets ebenso wie die Implementierung des Housing First-Ansatzes ein Gewinn bzw. ein Schritt in die richtige Richtung für alle Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Im Kontext der Akutunterbringung zeigt sich aber, dass die Lebensrealitäten sowie Bedarfs- und Bedürfnislagen Junger Erwachsener trotz ihrer quantitativen Relevanz noch nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die Schutzfunktion von Notquartieren – und Wohnraum im Allgemeinen – wurde kürzlich durch mehrere tödliche Angriffe auf Wohnungslose in Erinnerung gerufen. Junge Erwachsene, die Mehrbettzimmer von Erwachsenennotquartieren aus Furcht meiden, sind jedoch weiterhin nicht geschützt. Um Junge Wohnungslose künftig besser schützen und unterstützten zu können, und dadurch auch möglichst rasch und nachhaltig Wohnungslosigkeit Junger Erwachsener zu beenden, sind speziell gewidmete Quartiere mit Altersbegrenzungen, kleineren Einheiten und intensiveren Betreuungsmöglichkeiten notwendig.

 

[i] Durch die Großschreibung der Bezeichnung „Junge Erwachsene“ betont die [um]bruch:stelle die Notwendigkeit, diese als eigenständige Zielgruppe der Sozialen Arbeit wahrzunehmen. [ii] Der Housing First Ansatz versucht Menschen direkt eine Wohnung zu vermitteln und so tradierte Unterstützungsformen wie Beratungsstellen, Tageszentren oder Notquartiere zu umgehen. So wird Betroffenen viel Energie, Stigma und Leid erspart und ein Maximum an Autonomie und Selbstbestimmtheit gelassen, anstatt Abhängigkeitsverhältnisse und Institutionalisierungsphänomene zu fördern. Mehr zum Thema Housing First findet sich beispielsweise auf der Projekthomepage des vom Sozialministerium finanzierten Projekts „zuhause ankommen“ (Link zur Homepage). [iii] Details zur Weiterentwicklung der WWH sind im Strategiepapier des Fonds Soziales Wien zu finden (Link zum Strategiepapier).

 

Bibliografie

  1. AG Junge Wohnungslose. 2021. Über den Bedarf eines Gesamtkonzepts für junge Erwachsene in der Wohnungslosenhilfe. Wien: Arbeitsgruppe Junge Wohnungslose.

  2. Arnett, Jeffrey Jensen. 2000. Emerging adulthood: A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist 55: 469-480.

  3. Arnett, Jeffrey Jensen. 2015. Emerging Adulthood. The Winding Road from the Late Teens Through the Twenties. New York: Oxford University Press.

  4. Bellebaum, Christian; Thoma, Patrizia; und Daum, Irene. 2012. Neuropsychologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

  5. Bmfj Bundesministerium für Familien und Jugend. 2016. 7. Bericht zur Lage der Jugend in Österreich. Teil A: Wissen um junge Menschen in Österreich. Wien.

  6. Europäisches Parlament. 2020. Senkung der Obdachlosenquoten in der Europäischen Union. Brüssel.

  7. Fichtinger-Müllner, Andrea. 2022. Housing First: Junge Erwachsene im deinstitutionalisierten Setting. Welche Chancen und Herausforderungen birgt die neue Strategie der Wiener Wohnungslosenhilfe? , FH Campus Wien.

  8. FSW. 2018. Spezifische Förderrichtlinie für die Unterstützung obdach- bzw. wohnungsloser Menschen. Wien: Fonds Soziales Wien.

  9. Grundwald, Klaus, und Thiersch, Hans. 2016. Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszusammenhänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

  10. Labonte-Roset, Christine; Hoefert, Hans-Wolfgang; und Cornel, Heinz. 2010. Hard to reach – Schwer erreichbare Klienten in der Sozialen Arbeit. Berlin: Schibiri.

  11. Mayrhofer, Hemma. 2012. Niederschwelligkeit in der Sozialen Arbeit. Funktionen und Formen aus soziologischer Perspektive. Wiesbaden: Springer VS.

  12. Reckwitz, Andreas. 2017. Die Gesellschaft der Singularitäten: zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.

  13. Reckwitz, Andreas. 2019. Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp.

  14. Reinprecht, Christoph. 2019. Wohnraum im Wandel? Die Rolle des Wohnens für junge Erwachsene. DELO19: Wien.

  15. Sirsch, Ulrike; Dreher, Eva; Mayr, Eva; und Willinger, Ulrike. 2009. What Does It Take to Be an Adult in Austria? Views of Adulthood in Austrian Adolescents, Emerging Adults, and Adults. Journal of Adolescent Research 24: 275-292.

  16. Statistik Austria. 2023. Bevölkerung zu Jahresbeginn nach Bundesland, Alter, Geschlecht sowie österreichischer / ausländischer Staatsbürgerschaft seit 2002. Wien: Statistik Austria.

  17. Stauber, Barbara, und Walther, Andreas. 2016. Junge Erwachsene. Eine exemplarische Lebenslage für die Ausformulierung einer Sozialpädagogik des Übergangs. In Handbuch Kinder- und Jugendhilfe, edited by Wolfgang Schröer, Norbert Struck und Mechthild Wolff. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

  18. Sting, Stephan. 2011. Jugend aus pädagogischer Sicht. In 6. Bericht zur Lage der Jugend in Österreich. Jugend aus Sicht der Wissenschaft (Teil A) und der Jugendarbeit (Teil B), edited by bmwfj Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend. Wien.

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